Die Anzahl von bi- oder multinationalen Beziehungen nimmt angesichts einer Internationalisierung privater Lebensverhältnisse stetig zu. Dies ist nicht zuletzt auf die zunehmende Mobilität der Gesellschaft sowie berufliche Flexibilität zurückzuführen. Wenn bei einem Elternteil das einseitige Interesse zur Verlagerung des Lebensmittelpunktes besteht, kommt es vor, dass Kinder von diesem Elternteil ohne Einverständnis des (gemeinsam) sorgeberechtigten anderen Elternteils ins Ausland verbracht werden oder nach einer Urlaubsreise nicht mehr in den Heimatstaat zurückkehren. Für den verbleibenden Elternteil stellt sich dann die Frage, wie eine solche grenzüberschreitende Kindesentziehung rückgängig gemacht werden kann.
Vor der Gründung von MAYDELL FamilyLaw haben die Anwältinnen einen Rechtsstreit gegen eine Kindesmutter gewonnen, die sich nach Beendigung einer mehrjährigen Weltreise weigerte, mit der gemeinsamen Tochter nach Australien zurückzukehren, wo die Familie von 2018 bis 2022 gelebt hatte. Zwischen den Eltern waren zuvor mehrmonatige Reiseaufenthalte u.a. in Brasilien und Deutschland vereinbart worden, wo das Kind jeweils einen Kindergarten besuchte. Während der Reise kam es zur Trennung der Eltern. Die Kindesmutter entschied daraufhin, mit dem Kind in Deutschland bleiben zu wollen. Der Kindesvater beantragte die Rückführung des Kindes nach Australien nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (kurz HKÜ). Das Amtsgericht ordnete antragsgemäß die Rückführung des Kindes nach Australien an, da es trotz der mehrjährigen Abwesenheit und dem Besuch von Kindergärten davon überzeugt war, dass das Kind nach wie vor seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Australien hatte. Hiergegen legte die Kindesmutter Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Düsseldorf bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 15.2.2024, II-1 UF 3/24).
Grenzüberschreitende Kindesentführungen in Vertragsstaaten des Haager Kindes-entführungsübereinkommens
Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ) ist ein internationales Abkommen und soll den notwendigen Rechtsschutz bei grenzüberschreitenden Kindesentführungen sicherstellen. Das HKÜ ist mittlerweile von über 100 Vertragsstaaten ratifiziert worden. Auf der Grundlage des HKÜ sollen Kinder so schnell wie möglich in den Staat des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts zurückgebracht werden, ohne, dass mit der Rückgabeanordnung eine Entscheidung zum Sorgerecht verbunden wäre, Art. 19 HKÜ.
Eine internationale Kindesentführung liegt vor, wenn ein Kind, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, widerrechtlich in einen anderen Staat verbracht oder in diesem zurückgehalten wird. Widerrechtlich ist das Verbringen oder Zurückhalten des Kindes dann, wenn es das Sorgerecht des verbleibenden Elternteils verletzt, weil dieser mit der Verbringung des Kindes ins Ausland bzw. dessen Zurückhalten nicht einverstanden war. In diesem Fall ist der HKÜ-Antrag innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt des Verbringens bzw. Zurückhaltens zu stellen – und zwar in dem Land, in das das Kind verbracht bzw. wo es zurückgehalten wurde.
Das Ziel in HKÜ-Fällen besteht darin, den ursprünglichen Zustand vor der Entführung (Status quo ante) wiederherzustellen, sodass die angerufenen Gerichte nach den Regelungen des HKÜ innerhalb von sechs Wochen ab Antragseinreichung die sofortige Rückgabe des Kindes anordnen sollen, sofern die Voraussetzungen des HKÜ erfüllt sind. Die Rückführungsanordnung kann nur in wenigen Ausnahmefällen unterbleiben, da es sich bei dem Rückführungsverfahren um ein summarisches und nicht um ein dauerhaft am Kindeswohl orientiertes Verfahren handelt. So kann die Rückführung des Kindes beispielsweise nur unterbleiben, wenn nachgewiesen ist, dass die Rückführung für das Kind mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens verbunden wäre oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Situation gebracht werden würde, Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ. Eine solche schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein Kind kann etwa bei einer Rückführung in ein Kriegsgebiet bestehen. Bislang bejahten die Oberlandesgerichte das Vorliegen einer solchen schwerwiegenden Gefahr übereinstimmend im Fall der Rückführung eines Kindes in die Ukraine – und zwar in Bezug auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine (OLG Jena, Beschluss v. 4. April 2023, 1 UF 54/23; OLG Stuttgart, Beschluss v. 13. Oktober 2022, 17 UF 186/22). Die Rückführung wurde in diesen Fällen abgelehnt. Eine andere Auffassung vertritt hierzu aktuell das Oberlandesgericht Köln: die Kölner Richter ordneten die Rückkehr eines Kindes in die Ukraine an und wiesen darauf hin, dass das Kind nicht in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt werden müsse, da die Rückführung nicht an einen bestimmten Ort, sondern lediglich in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zu erfolgen habe. Für den Senat sei nicht feststellbar, dass das gesamte Staatsgebiet der Ukraine gegenwärtig von Kriegshandlungen betroffen sei (OLG Köln Beschluss vom 17.7.2023 – 21 UF 100/23).
Die divergierenden Auffassungen der obergerichtlichen Rechtsprechung zu den Auswirkungen der aktuellen Situation in der Ukraine für hiesige HKÜ-Verfahren verdeutlichen, dass gewichtige Gründe vorliegen müssen, um im Fall einer internationalen Kindesentführung die Rückführungsanordnung zu vermeiden. Die Rückführung kann daher nicht mit den Argumenten abgelehnt werden, dass der entführende Elternteil die Hauptbezugsperson des Kindes sei, gegen diesen ein Haftbefehl aufgrund der Entführung vorliege oder dass die Rückführung für das Kind mit Belastungsfolgen wie einem weiteren Ortswechsel verbunden sei.
Grenzüberschreitende Kindesentführungen in Staaten, die keine Vertragsstaaten des HKÜ sind
Sehr schwierig ist es ein Kind zurückzuführen, wenn es in einen Staat entführt wird, mit dem kein multilaterales Abkommen besteht. Viele islamisch geprägte Länder beispielsweise sind dem HKÜ nicht beigetreten. Noch schwieriger wird es, wenn der (genaue) Aufenthalt des Kindes im Ausland unbekannt ist. In diesen Fällen kann es hilfreich sein, sich an die Zentralen Behörden oder die diplomatischen Vertretungen zu wenden oder eine Detektei zu beauftragen, die den Aufenthalt des Kindes im Ausland aufspüren.
Fazit:
Sobald sich Anhaltspunkte für eine Kindesentführung verdichten oder sich diese bereits ereignet hat, ist unverzügliches Handeln gefragt. Neben der Einleitung eines HKÜ-Verfahrens, sollten Fahndungsmaßnahmen durch die Polizeidienststelle ergriffen werden. Ferner kann das Gericht einstweilige Anordnungen treffen wie z.B. die Hinterlegung von Ausweispapieren, die Anordnung eines begleiteten Umgangs während des HKÜ-Verfahrens oder Auferlegung von Meldepflichten bis hin zur Grenzsperre.
Auch gilt es wachsam zu sein, sofern ein Elternteil in Umgangs- oder Sorgerechtskonflikten die konkrete Drohung ausspricht, die Kinder ins Ausland zu verbringen. In einem solchen Fall sollte sich der verbleibende Elternteil sorgfältig überlegen, ob er seine Zustimmung für eine Urlaubsreise des anderen Elternteils mit dem gemeinsamen Kind erteilt. Jedoch sollten hierfür konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr einer internationalen Kindesentführung vorliegen, da andernfalls das Familiengericht auf Antrag des reisewilligen Elternteils die Zustimmung des anderen Elternteils ersetzen kann. Zu berücksichtigen ist auch, dass im Verhältnis zu beliebten Reisezielen wie etwa Dubai oder den Malediven das HKÜ nicht anwendbar ist, sodass eine etwaige Rückführung von entführten Kindern juristisch problematisch ist. Eine Liste der Vertragsstaaten des HKÜ im Verhältnis zu Deutschland ist abrufbar auf der Internetseite des Bundesamts für Justiz.